negative gefühle annehmen

Wie unangenehme Gefühle unser Leben bereichern

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Warum es auch gut sein kann, wenn es uns schlecht geht

Sogenannte negative Gefühle sind verpönt. Dazu gehören Angst, Trauer, Scham, Ärger, Bitterkeit, Hilflosigkeit, Frustration oder Schmerz. Vielleicht fallen dir noch weitere ein. Erwünscht sind hingegen sogenannte positive Gefühle wie Freude, Heiterkeit, Offenheit oder Gelassenheit. Diese Bewertung führt dazu, dass wir unangenehme Gefühle oft gar nicht zulassen, unterdrücken oder überspielen. Dabei wollen auch diese Gefühle gut für uns sorgen. Denn sie zeigen uns, wenn wichtige Bedürfnisse unerfüllt sind.

Unangenehme Gefühle weisen uns darauf hin, dass wichtige Bedürfnisse nicht erfüllt sind.

Bedürfnisse in der Gewaltfreien Kommunikation
Diese sehr übersichtliche Aufteilung der Bedürfnisse in vier Bereiche stammt von Empathikon.de.

Normalerweise vermeiden wir unangenehme Gefühle

Das heißt auch: Wenn ich unangenehme Gefühle als etwas empfinde, was unerwünscht ist, oder sie gar nicht erst wahrnehme, erschwere ich mir, für meine Bedürfnisse zu sorgen.

Beispiel: Vermeidung von unangenehmen Gefühlen

Ich bin einsam und traurig, weil ich Kontakt zu anderen Menschen brauche.
Anstatt mir nun Zeit zu nehmen, das Gefühl wahrzunehmen und mir die Chance zu geben, für meine Bedürfnisse zu sorgen, greife ich zur Fernbedienung und schalte den Fernseher an. Das lenkt mich von meinen eigentlichen Gefühlen und Bedürfnissen ab. Aber sobald die Sendung vorbei ist, kommen die Gefühle wieder.

Das ist eine Situation, die ich immer wieder selbst erlebe. Ganz ähnlich kann sich das mit exzessiver Arbeit, Shopping, Essen oder Computerspielen verhalten. Und vielleicht fällt dir noch mehr ein.

Wenn ich meinen unangenehmen Gefühlen keinen Raum gebe, fällt es mir schwerer, mir selbst zu helfen. In diesem Moment bin ich abgetrennt von mir selbst. Und das kann dazu führen, dass ich mich als völlig ausgeliefert und ohne Handlungsspielraum wahrnehme. Und das führt zu noch mehr Emotionen dieser Art.

Gleichzeitig ist allein das Wahrnehmen von Gefühlen kein Allheilmittel, sondern ein erster Schritt zu dir selbst.

Wie kann ich Gefühle wahrnehmen?

Aber wie kann ich überhaupt erkennen, welche Gefühle ich gerade habe? Ich erlebe, dass es vielen Menschen schwer fällt, Gefühle wahrzunehmen und voneinander zu unterscheiden. Eine hilfreiche Basis dafür sind kulturübergreifende Untersuchungen von Grund-Gefühlen, die alle Menschen gemeinsam haben. Der Psychologe Paul Ekman hat sich damit befasst und hat Wissenschaftler*innen, die Gefühle untersuchen, befragt, welche Grund-Gefühle sie benennen würden. Die größte Einigkeit fanden folgende Gefühle:

  • Freude
  • Wut
  • Ekel
  • Furcht
  • Traurigkeit

Alle anderen Gefühle, die wir so kennen, z.B. Erleichterung, Nervosität oder Irritation sind – so die Theorie – unterschiedlich starke Ausprägungen dieser Grund-Gefühle. Wenn du dir diese Gefühle ein bisschen genauer anschauen willst, empfehle ich dir den „Atlas of Emotions“ von der Ekman Group.

Um die Gefühle anderer Menschen zu erkennen, reicht es oft, deren Gesichtsausdruck zu sehen. Unsere eigenen Gefühle können wir als Empfindungen im Körper wahrnehmen. Wenn ich nervös bin, habe ich z.B. ein hohles Gefühl im Bauch, spüre Herzklopfen und fühle mich zittrig. Und wenn ich mich schäme, fällt es mir schwer Augenkontakt zu halten und ich fühle mich innerlich starr. Versuch selbst einfach mal zu spüren, wie sich dein Körper in bestimmten Situationen anfühlt.

Meine Gefühle haben nur mit mir zu tun

Gefühle haben ganz grundsätzlich etwas mit mir zu tun. Wenn wir darüber reden, wie es uns geht, neigen wir aber dazu, das zu verschleiern. Wir sagen z.B. „Ich fühle mich nicht ernst genommen.“ oder „Ich fühle mich abgelehnt.“ Damit schieben wir zum einen die Verantwortung für unser Gefühl von uns, wir schützen uns aber auch, indem wir unsere eigentlichen – körperlich wahrnehmbaren – Gefühle verbergen. In gewissen Situationen kann das sinnvoll sein, oft hindert es uns aber an einem authentischen, zwischenmenschlichen Umgang.

Für mich sehr deutlich macht diese Eigenverantwortung der Gefühle folgendes Beispiel:

Beispiel: Eigenverantwortung von Gefühlen

Ich habe mich mit einem Freund verabredet. Wir haben 15 Uhr ausgemacht. Es ist 15:15 Uhr und er ist immer noch nicht da.
Ich könnte nun folgendermaßen reagieren:

  1. Ich bin total verärgert. Dadurch, dass er später kommt als ausgemacht, interpretiere ich, dass er mich nicht wertschätzt und das verletzt mich.
  2. Ich freue mich über die Gelegenheit, noch schnell eine Aufgabe fertig zu machen, die ich vorher nicht mehr geschafft habe. Dadurch kann ich nun im Gespräch viel entspannter und präsenter sein.

Obwohl es sich um die gleiche Situation handelt, kann ich komplett unterschiedliche Gefühle dazu haben. Wie diese aussehen hängt sehr stark von meinen Gedanken in der Situation ab.

Wie gehe ich nun mit unangenehmen Gefühlen um?

Am Ende möchte ich dir noch eine Übung mitgeben, um sogenannte negative Gefühle zu spüren und anzunehmen. Wenn du sie ausprobieren willst, nimm dir ein bisschen Zeit und gehe an einen Ort, an dem du Ruhe hast und ungestört bist.

Hinweis: die Übung ist nicht für Menschen geeignet, die eine Psychose oder Panikstörung haben. In diesem Fall bitte ich dich, mit deinem/deiner Therapeut*in eine geeignetere Übung zu wählen.

Übung: Gefühle erkennen und annehmen

  1. Versuche herauszufinden, was deine Lieblingshandlung ist, um negative Gefühle zu vermeiden. Das kann sein: Fernsehen, Computerspielen, Essen, Party, Alkohol, Sport, Drogen, Sex, etwas Neues kaufen, … Oder vielleicht sind es auch mehrere.
  2. Das nächste Mal, wenn du merkst, dass du große Lust auf eine dieser Tätigkeiten hast, halte erstmal inne.
  3. Atme ein paarmal tief durch.
  4. Schließe deine Augen und konzentriere dich auf deinen Körper. Was nimmst du wahr? Das kann sein: Anspannung im Nacken, Wärme in der Brust, Schmerzen im Rücken oder Druck in der Magengegend, Taubheit der Hände, Herzklopfen, usw. Spüre deinen ganzen Körper. Du kannst auch laut aussprechen, was du empfindest.
  5. Bleib eine Zeitlang bei deinen Körperwahrnehmungen. Nach einer Weile kannst du vielleicht erkennen, um welches Gefühl es sich handelt, oder wie du den Zustand benennen kannst. Das kann sein: Bitterkeit, Traurigkeit, Ärger, Unsicherheit, Scham, Hilflosigkeit, etc. Schenk nun diesem Gefühl deine ganze Aufmerksamkeit. Es kann auch hier hilfreich sein, das laut auszusprechen.
  6. Sag dir innerlich: „Ich erlaube dem Gefühl da zu sein.“ oder einen anderen Satz, der Wertschätzung oder Akzeptanz für das Gefühl ausdrückt.

Ich mache das manchmal in einer abgekürzten Variante und habe mich für die hier vorgestellte ausführliche Variante von einer Übung von Safi Nidiaye inspirieren lassen. Wenn ich mir dafür Zeit nehme und das mit dem „Ich erlaube dem Gefühl da zu sein.“ wirklich ernst meine, spüre ich danach eine Erleichterung und oft auch neuen Tatendrang.

Ich würde mich freuen, Rückmeldungen zu bekommen, wie es dir mit der Übung geht. Außerdem interessiert mich: Wie gehst du normalerweise mit unangenehmen Gefühlen um?

Dieser Text basiert auf den Annahmen der Gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg.

3 Meinungen zu “Wie unangenehme Gefühle unser Leben bereichern

  1. Eine Sache die mich immer wieder wundert: Warum Trauer meist als negativ betrachtet wird.
    Sicher, auf den ersten Blick ist es kein schöner Zustand wenn man trauert weil es Verlust bedeutet.
    Aber letztlich trauert man nur um etwas das man wirklich und von Herzen geschätzt hat – und das wiederum ist doch etwas Wunderschönes!

    Unangenehm wird es also eigentlich erst dadurch daß man verlernt hat richtig mit diesem Gefühl umzugehen…

    1. Was meinst du mit „Spiegel unserer Seele“? Gefühle entstehen immer von Moment zu Moment, entweder durch Gedanken und Urteile, die ich über mich selbst oder andere habe, oder indem mir bewusst wird, dass ich gerade dringend etwas brauche, wie Nähe, Geborgenheit oder Sicherheit, oder indem mir bewusst wird, dass es mir so richtig gut geht, weil ich so vieles bereits habe, was ich zum gut leben brauche. Dabei kann es schon passieren, dass ich mich ohne es zu wollen in eine negative Gedankenspirale katapultiere und es mir dadurch immer schlechter geht. Unser Körper gibt uns dabei wichtige Hinweise über unser Befinden – wenn wir uns nicht die Zeit nehmen, auf ihn zu achten und es vielleicht gar nicht gelernt haben, kann es uns auch über Jahre hinweg schlecht gehen, ohne dass wir es überhaupt richtig merken.

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